Mit seinem neuen Meisterwerk "Killers of the Flower Moon" schafft Martin Scorsese unvergessliche Bilder des abgrundtief Bösen und der reinen Unschuld.
Eine Rezension von Jens Jessen
Aus der ZEIT Nr.44/2023
Artikel aus DIE ZEIT Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.44/2023
Das Gesicht des Films gehört Lily Gladstone. Es ist dieses Gesicht, das sich einbrennen wird, seine weichen, zart verschwimmenden Leidenszüge in einem Antlitz gleichwohl unerschütterlicher Überlegenheit. Es ist diese nicht mehr ganz junge, kaum bekannte Schauspielerin mit indianischen Wurzeln, die niemand vergessen wird, der sie hier in der Rolle der Mollie gesehen hat, einer Native American vom Stamm der Osage. Sie wird von ihrem eigenen Ehemann schleichend vergiftet, einem weißen Taugenichts, der an ihr Erbe will.
Oder ist es sein böser Onkel William, der die Strippen zieht? Mollie zweifelt, aber sie ahnt das Komplott, denn es sind in diesem Fairfax, Oklahoma, der goldenen Zwanzigerjahre schon Dutzende indigener Frauen von weißen Männern geheiratet und anschließend umgebracht worden. Es ist die einträglichste Erbschleicherei aller Zeiten, weil die Osage Erdöl haben und somit reich sind. Mollie schwebt am Rande des Todes, bis der böse Plan auffliegt, aber sie bleibt der moralische Souverän ihrer Ehe, sie kämpft nicht nur für sich, sondern auch um das Seelenheil ihres Mannes, der nicht zum Mörder werden soll. Wie sie ihn aus müden Augen forschend anblickt! Wie sich die Augen schließen wollen und doch wieder öffnen, um einen Lichtstrahl in sein schwarzes Herz zu senden. Dieser Blick wird den Zuschauer noch auf dem Heimweg begleiten – und vielleicht niemals wieder verlassen.
Manches spricht dafür, dass Martin Scorsese in dieser Mollie eine der unvergänglichen Chiffren des Kinos geschaffen hat, in der die Untaten des weißen Mannes für ewig angeklagt und aufgehoben sind. Auch wenn der Regisseur seine beiden großen Lieblingsstars aufgeboten hat, Leonardo DiCaprio für den Ehemann Ernest und Robert De Niro für den Onkel William, ist es nicht deren bravouröses Schurkenspiel, sondern die leidende, im Leiden moralisch triumphierende Christusgestalt der Mollie, die alle überstrahlt. Ja, sie ist tatsächlich so etwas wie ein Christus in weiblicher Heidengestalt, der noch vom Kreuz herab seine Peiniger erlösen und vor Schuld und Verdammnis retten will. Auch sie, hinabgestiegen in das Reich des Todes, erlebt eine Wiederauferstehung und zeigt sich noch einmal den Menschen – ihrem Ehemann, um ihn zu einem Eingeständnis seiner Schuld und auf den Pfad der Reue zu bringen.
Es ist ein großer Augenblick für Leonardo DiCaprio, in dessen Mimik Verzweiflung, Schuld und Angst kämpfen, am Ende siegt die übergroße Scham, und er bleibt stumm. Aber in diesem Augenblick ist er auch schon im Gewahrsam der Polizei und wird einer anderen, der irdischen Gerechtigkeit überstellt. Es ist eine Lieblingsidee von Scorsese, die er oft, vor allem in Casino (1995), entfaltet hat, dass es auch so etwas wie ein Fegefeuer auf Erden gibt – es besteht darin, dass die Strafe ausbleibt oder nicht angemessen ist. Ernest wird, aber das verrät erst der Epilog, nach dem Gefängnis sein Leben als Trinker in einem Trailerpark beenden. So ungefähr stellt sich Scorsese die Zusammenarbeit von irdischer und himmlischer Gerechtigkeit vor.
Man kann natürlich fragen (und viele werden das tun), ob es angemessen ist, ein quasi koloniales Verbrechen an Indigenen in den Anspielungsraum einer weißen Religion zu setzen. Aber es ist nun einmal mit dem Katholiken Scorsese wie mit allen großen Künstlern: Sie können einen Stoff erst bearbeiten, wenn sie darin ihre ureigenen Themen gefunden haben. Auch Scorseses Gangs of New York (2002) beginnt mit der Bibel, nämlich damit, dass der Held (ebenfalls Leonardo DiCaprio) sie ins Wasser wirft. Warum? Weil die Gewaltgeschichte erst beginnen kann, wenn das Evangelium entsorgt worden ist – was dessen Bedeutung nur steigert.
Manche Filmkritiker haben versucht, die religiösen Pointen zu verschweigen, vielleicht in der Meinung, den Regisseur damit zu schützen. Doch es wird Scorsese nicht gerecht und würde erst recht diesen Film verfehlen, dessen Titel Killers of the Flower Moon nicht nur mit einer indianischen Metapher spielt, sondern auch Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies andeutet. Es mag eine Ketzerei sein (Scorsese neigt zu Ketzereien), aber in manchen fast kitschigen Szenen, in denen die Osage unter sich sind, kindlich tanzen, segnen, feiern, deutet sich tatsächlich so etwas wie paradiesische Unschuld an.
Auch dies könnte man infrage stellen, als typischen weißen Blick, der sich die Figur des "edlen Wilden" erfindet, wie es schon die europäische Aufklärung getan hatte. Aber der Einwand täte wenig zur Sache. Es geht nicht eigentlich um die Beschwörung einer heilen Welt, sondern um den Einbruch des Bösen. Was Scorsese tatsächlich in den Film einschleppt, ist etwas abgründig Dostojewski-Haftes, ein fiebriges Sündenbewusstsein, das in dem Genre nichts zu suchen hat, weil es eigentlich eine Dokufiktion ist, die auf brutalen Tatsachen beruht (s. ZEIT Nr. 20/23).